(Un)Sichtbar auf der Flucht

Eine Diskursanalyse der Darstellung von flüchtenden und geflüchteten Frauen*
in dokumentarfotografischen Ausstellungen
in Deutschland (2015/16)

©annikagemlau2017

Masterarbeit von Annika Gemlau
Interdisziplinäre Anthropologie
Albert-Ludwig-Universität Freiburg
Erstgutachterin: Prof. Dr. Cornelia Brink

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„Rassismus geht stets mit der Deutungsmacht
und der Kontrolle über Körper einher,
die als nicht-zugehörig stigmatisiert werden“
(Kulaçatan 2016: 111)

 

Nach der Silvesternacht von 2015 auf 2016 kam es in den deutschen aber auch in den internationalen Medien zu einem großen Eklat über sexualisierte Gewalt gegenüber Frauen*(1) in Deutschland. Es schien sich eine diskursive Koppelung sexismuskritischer Argumente mit rassisierten Anfeindungen herauszukristallisieren, die vor allem auf Männer* im Asylverfahren ausgerichtet war, die in den Monaten zuvor bereits zentrales Thema in den Medien gewesen waren. Die vehemente Kritik an der Aufnahme von nach Deutschland geflüchteten Menschen wurde durch die medial inszenierte Bedrohung durch sexualisierte Gewalttäter* mit Migrationshintergrund angefeuert. Aussagen von Thilo Sarrazin, PEGIDA-Kundgebungen und AfD-Parteiprogramme haben rassisierte Pauschalisierungen im Laufe der letzten Jahre in Deutschland wieder salontauglicher gemacht und zunehmend Raum und Sendezeit in den Medien eingenommen. Aber der derzeitige deutsche Innenminister Thomas de Maizière forderte dazu auf, die „Sorgen“ der populistischen Bürger*innen ernst zu nehmen (Foroutan 2016: 102-104). Diese Verschränkung von vermeintlich antisexistischen und feministischen Forderungen (2) zum Schutz weißer, deutscher und christlicher Frauen* und zur gleichzeitigen Beschuldigung von Männern* mit einem diffus beschriebenen Phänotyp, der wild mit Ethnien, Nationalitäten und vor allem mit dem Islam in Zusammenhang gebracht wurde (vgl. Amir-Moazami 2016: 23 (3)), expliziert eine alte europäische Kolonialtradition der „Dämonisierung imaginierter Anderer“ (Castro Varela/Mecheril 2016: 11; vgl. auch Ziai 2016: 198; Allen 2012: 7). Diese Form der Abgrenzung hatte bereits mit den Anschlägen vom 11. September 2001 hauptsächlich den Islam und dessen vermutete Anhänger*innen pauschalisierend ins Visier genommen und erleichterte 2016 eine erneute Verschärfung der Abschiebepolitik der Bundesrepublik. Da in diesem politischen Diskursfeld bei der Erzeugung von Fremdbildern die Beschreibung von äußerlichen, geschlechterspezifischen Zeichen wie dem Phänotyp und auch der Kleidung eine zentrale Rolle spielen, wird in dieser Arbeit der Blick auf den visuellen Beitrag zu dem Diskursstrang um die Wörter „Flüchtlinge“ und „Flucht“ gelegt. Des Weiteren wird der Analysefokus auf die Darstellungen von Frauen* während oder nach der Flucht eingeschränkt. So sollen einerseits ihre mediale Unsichtbarmachung und Marginalisierung und andererseits die bilddiskursive Reduktion „auf ,vulnerable‘ Flüchtlingsfrauen kritisch hinterfragt werden, die zu einer Reproduktion binärer Strukturen von Opferfrauen und Tätermännern führt“ (Krause 2017: 80). Meine anfängliche Analysemotivation, in Dokumentarfotografien tatsächlich mehr über die Lebensrealität der Dargestellten zu erfahren, ist angesichts dieser Diskursbeschreibung gleich zu Beginn enttäuscht worden. Jedoch wird es möglich sein mittels einer Analyse von Bildern, die sich in 2015 und 2016 verstärkt um den Begriff „Flüchtlingskrise“ gewickelt haben, diskursive Wahrnehmungsregime innerhalb des deutschen Sprach- und Kulturraums zu problematisieren. Mit Hilfe einer solchen Forschungsperspektive erhoffe ich mir, herauszuarbeiten, welche visuellen Markierungen und Bildtraditionen von den Mechanismen der Fremdkonstruktion
zu Gunsten der Stabilisierung einer deutschen Identität angeeignet worden sind. Mit Hilfe dieses Wissens möchte ich visuelle Strategien – sowohl seitens der Fotograf*innen, als auch seitens der Fotografierten – vorstellen, die versuchen den rassisierenden und nationalistischen Diskurs zu durchqueren, zu parodieren und sich auf ihre Weise darin einzuschreiben … (Fortsetzung hier).

1 * Das Gendersternchen soll im Rahmen dieser Arbeit am Ende eines geschlechtlich geprägten Begriffs
Menschen beschreiben, bei denen ich aufgrund einer sprachlichen Markierung im Bildtitel, Bildkommentar
oder – falls nicht vorhanden – aufgrund meiner soziokulturellen Wahrnehmung auf die ihnen zugewiesene
Geschlechterrolle schließe. Die Bezeichnungen „Frauen*“ und „Mädchen*“ bedeuten deshalb nur, dass ich
die Dargestellten aufgrund meiner soziokulturell geprägten Definition von Geschlechteridentitäten als
„weiblich“ wahrnehme und dechiffriere, anstatt dass diese Bezeichnungen tatsächlich eine Auskunft über
die geschlechtlichen Identitäten der Dargestellten geben könnten.
2 Sara Farris verwendet für dieses ideologische Phänomen, das nationalistischen und xenophobischen Zwecken
dient, den Begriff „Femonationalismus“ (zit. n. Kulaçatan 2016: 115), von dem sich im Januar 2016
zahlreiche Feministinnen* mit dem Aufruf #ausnahmslos distanzierten und ihm klare Forderungen gegen
sexualisierte Gewalt und Rassismus entgegensetzten (vgl. Messerschmidt 2016: 161).
3 Vgl. auch Butler, Judith (2004): Precarious Life: The Power of Mourning and Violence. London: Verso:
39: „a heightened surveillance of Arab people and anyone who looks vaguely Arab in the dominant racial
imaginery [...] Various terror alerts that go out over the media authorize and heighten racial hysteria in
which fear is directed anywhere and nowhere, in which individuals are asked to be on guard but not told
what to be on guard against; so everyone is free to imagine and identify the source of terror.“