Wilde Zähne

… und Raubtierglück

von Miriam Dahmane

Nahrung für Wilde Zähne ©annikagemlau

Gerne würde ich manchmal etwas mit meinen Zähnen zerreißen, zerfetzen. Das denkt keiner. Ich bin gut, sanft, lieb und ernähre mich vegetarisch. Fleischkonsum ist in unserer Gesellschaftsstruktur schwierig und meistens moralisch verwerflich. Für Aggression gilt das ebenso. Raubtiere haben in meinen Augen trotzdem die schönsten Zähne. Mit ihrer Wildheit verbindet mich eine ähnliche Angst und Faszination wie mit meiner eigenen Wildheit und meiner eigenen Aggression.

Wir Menschen sind zwar keine Raubtiere, aber wir sind Omnivore, Allesfresser. Das zeigen unsere Zähne. An denen lässt sich viel über die Natur einer Spezies erkennen. Erstmal schwer zu schlucken ist diese Wahrheit aus meiner moralisch undurchdringlichen vegetarischen Perspektive. Denn das bedeutet, dass ich eine ausgewogene Nährstoffversorgung brauche, die auch tierische Bestandteile enthält. Für meine Gesundheit und um in Einklang mit meiner Natur zu leben.

Ich stoße damit auf ein Tabu in mir. Wer in Kontakt mit seiner Seele und den Missständen in der Welt steht, der lebt vegetarisch, besser vegan. Unzählige Menschen haben sich in meinem Leben in meiner Gegenwart schuldig gefühlt, Fleisch zu essen. Den Raubbau an meinem Körper und meiner Seele und die damit zusammenhängende unbewusste Schuld habe ich dabei auf die ungezügelte Raubtierhaftigkeit meiner Mitmenschen projiziert. Grrrr…

Die Brutalität mit der wir als Gesellschaft der Natur begegnen, Massentierhaltung und die unendlich quälerische Praxis, die damit zusammenhängt, haben mir keine andere Wahl gelassen, als mich von den Bedürfnissen meines Körpers abzuwenden. Ich habe meine Entscheidung nicht in Frage gestellt. Ich habe mich stattdessen gewundert, warum ich nicht stark genug bin, vegan zu leben. Doch was, wenn ich mich mit vegetarischer Ernährung von meiner eigenen Natur und damit von der Natur an sich entferne? Von der Natur, zu der es mich mit aller Macht hinzieht. Was, wenn ich nicht so sanft und lieb bin, wie ich denke? Was wenn in mir auch eine Jägerin steckt? Was, wenn ich den Tod nicht aus meiner Ernährung und meinem Leben ausschließen kann.

Das ist hier ist keine Handlungsanleitung, sondern sind meine Fragen an mich und unsere Gesellschaft. Denn etwas in mir verlangt, dass ich meine raubtierhaften Anteile und meine Aggression integriere. Das ist kontrovers und ein mächtiger kollektiver Schatten baut sich über mir auf. Besser als Zähneknirschen ist das aber dann trotzdem. Wie genau das dann aussehen soll, weiß ich auch noch nicht. Vielleicht fange ich bald Fisch. Denn die Natur ist wild und ich bin das nun mal auch. Wenn ich mich zu einem sanften flauschigen Lämmchen mache und alles Derbe ignoriere, hat das wenig mit Respekt zu tun. Wenn ich meine Wildheit sehe und integriere komme ich dem schon näher.

Für mich sind meine Zähne dazu der Schlüssel. Aus Ekel vor unserer Gesellschaft und ihrer Reflexion in mir selbst habe ich mich in meiner eigenen Wildheit und Wahrheit beschnitten. Liebe und Respekt vor dem Leben rechtfertigen das nicht, wenn ich dabei meine eigenen Bedürfnisse ignoriere. As above, so below. Sprich, zuerst muss ich Verantwortung für die Bedürfnisse meines Körpers übernehmen. Dafür muss ich nicht das essen, was mein Kopf, sondern was mein Körper mir sagt. Denn wenn ich meinen Körper ausbeute, dann hat das wenig mit Respekt und Verantwortung tun, aber viel mit Verleugnung. Verleugnung dessen, was nicht schön ist, sondern ganz schön derb.

Und vielleicht ist der Tod auch deshalb so abstrakt für uns, weil wir es geschafft haben, ihn aus allen unseren Lebensbereichen zu verdrängen. Vielleicht bin ich unter anderem auch deswegen Vegetarierin geworden. Es gibt keinen Respekt vor dem Leben und schon gar nicht vor dem Tod. Deshalb wollte ich damit nichts zu tun haben. Aber Verantwortung für das Leben ist ohne Verantwortung für den Tod nicht möglich. Hört sich düster an, ist aber eine Einladung an das Leben mit all seinem Leuchten und all seiner Dunkelheit in mir Platz zu nehmen.

Und eine Verneigung vor dem Raubtier in mir. Dein Raubtierglück ist hier willkommen.

Text: Miriam Dahmane – Inspiriert von Yolanda Dolling
Illustrationen: Annika Gemlau

Zahnseelen©annikagemlau